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Stolpersteinverlegung

Kurzvortrag anlässlich der 1. Stolpersteinverlegung in Ilvesheim am 19. September 2020

Mit dem ehrenden Gedenken an die sieben bis zuletzt in Ilvesheim lebenden Juden blicken wir zugleich auf das Ende der beinahe 250 Jahre währenden Existenz der hiesigen Jüdischen Gemeinde. Gewiss steht bei Anlässen wie dem heutigen das Unrecht, das den jüdischen Mitbürgern während der NS-Zeit widerfuhr, im Mittelpunkt. Wir würden ihrem Andenken aber nicht gerecht, wollten wir sie alleine auf eine Opferrolle reduzieren, denn die Geschichte der Ilvesheimer Juden ist bis zu ihrer letzten gewaltsamen Phase ab 1933 nicht reine Verfolgungsgeschichte, sondern muss in erster Linie sozialhistorisch verstanden werden, als Geschichte einer Minderheit, die in Wechselbeziehung zu einer Mehrheits- und Dominanzkultur den steinigen und gewundenen Pfad zu gesellschaftlicher Anerkennung und Emanzipation beschreitet. Es ist eine böse Ironie, dass, während die Gleichberechtigung der Juden in Deutschland erreicht war, just jene Kräfte an die Macht kamen, die das Rad der Zeit nicht nur zurückdrehen wollten, sondern sich die Annihilation jüdischen Lebens, jüdischer Geschichte und Kultur auf die Fahnen schrieben und damit – wenn sie auch dieses Ziel nicht erreichten – erschreckend weit gekommen sind.

Die Geschichte der Ilvesheimer Juden ist in mancherlei Hinsicht außergewöhnlich zu nennen und bildet innerhalb unserer Ortshistorie als Ganzem einen wesentlichen Baustein: „Juddenescht“ (Judennest) ist Ilvesheim in den umliegenden Dörfern genannt worden. Geschuldet war diese gewiss nicht schmeichelhaft gemeinte Zuschreibung dem Umstand, dass der Ort stets eine auffallend große jüdische Bevölkerung aufwies, was wiederum zusammenhing mit dem historischen Faktum der Ortsherrschaft, der das Recht zustand, Schutzjuden anzusiedeln. Davon wurde seit 1700, mit der Belehnung Lothar Friedrichs von Hundheim, rege Gebrauch gemacht, bedeuteten doch die Gelder, die die Juden dem Ortsherren zu entrichten hatten, eine willkommene Einnahmequelle. Mit einer toleranten Geisteshaltung hatte dies zwar nichts zu tun, aber immerhin trafen die Juden in Ilvesheim auf verhältnismäßig gute Entfaltungsmöglichkeiten, wogegen sie andernorts oft wenig gelitten waren oder ihnen die Ansiedelung gleich gänzlich untersagt wurde.

Nach der Volkszählung des Jahres 1775 lebten in Ilvesheim bereits 82 Juden. Das Dorf hatte damals nach Mannheim, Mosbach und Heidelberg (die freilich schon Städte mit wesentlich größerer Einwohnerzahl waren) die viertgrößte jüdische Gemeinde in der rechtsrheinischen Kurpfalz und sowohl in relativer als auch in absoluter Ziffer waren diese Zahlen bis Mitte des 19. Jahrhunderts sogar noch gestiegen, nämlich auf 225 Köpfe, was etwas mehr als 16% der Einwohnerschaft bedeutete (im Großherzogtum Baden waren es 1,6%).

In der Hauptstraße hatten die Ilvesheimer Juden mit der Synagoge, die bis 1873 zugleich die israelitische Schule beherbergte, ihren kulturellen und religiösen Mittelpunkt, seit 1860 bestand außerdem ein eigener Friedhof, heute das letzte sichtbare Zeichen jüdischer Geschichte am Ort. In der Hauptstraße lebten auch seit eh und je die meisten Juden, was ihr im Volksmund den Namen „Juddegass“ eintrug, der Dammabschnitt hinter der Synagoge war der „Juddedomm“.

Die Juden in Ilvesheim waren je länger sie am Ort lebten – und manche Familien existierten hier über sechs Generationen hinweg – immer weniger randständig. Im Laufe vieler Jahre hatte sich nicht nur eine Emanzipation vollzogen, sondern auch ein sozialer Aufstieg, der sie ihre anfänglich durchaus prekären Verhältnisse überwinden ließ. Sie betätigten sich als Getreide- und Futtermittel- oder Viehhändler, waren Krämer, Metzger oder betrieben Tabakhandel. Und längst waren sie selbstverständlicher Teil des Gemeinwesens geworden.

Juden waren Nachbarn, Geschäftspartner und Arbeitgeber, Schulkameraden und, ja auch Freunde. Immer wieder tauchen Juden auch außerhalb ihres eigenen Vereinslebens auf. So etwa war Jakob Hirsch in den Jahren 1862-1865 Gründungsvorstand der „Germania“, dem heute ältesten Ilvesheimer Verein, Fritz Loeb gehörte 1904 zu den ersten Vereinsfußballern am Ort. Julius Kahn war als Mitglied des Bürgerausschusses in den Jahren der Weimarer Republik am kommunalpolitischen Geschehen beteiligt.

Man kann es in die Formel gießen, dass die Juden zwar ihr Eigenbewusstsein, ihre Religion und ihre Kultur pflegten, aber jene Werte, auf die es beim Zusammenleben letztlich alleine ankommt, mit der nicht-jüdischen Mehrheit im Dorf teilten.

Dies ging über das, was wir gemeinhin als Integration verstehen, hinaus. Beweis einer ausgeprägten Assimilationsbereitschaft etwa lieferten ihre selbst gewählten Vornamen, die (wie dies bei vorangegangenen Generationen noch mehrheitlich der Fall war) keinerlei religiösen Anklang mehr hatten: Sie hießen Julius, Siegfried und Bernhard, Max, Otto oder Adolf, man nannte sie Hilda, Bertha oder Sophie. Und dass der erste jüdische Junge, der in Ilvesheim nach der Reichsgründung 1871 auf die Welt kam, den Namen Wilhelm erhielt, war gewiss kein Zufall.

Ihr ganzer Umgang und nicht zuletzt auch ihre Mundart waren kein Distinktionsmerkmal mehr. Zu all dem passt, dass wir in den Quellen wenig über Konflikte zwischen Juden und Mehrheitsbevölkerung finden, sondern dass die Quellen eher auf ein gutes Miteinander schließen lassen. Die Loyalität zum Vaterland und zum großherzoglichen Haus stand für die Juden außer Frage und während der Kriege 1870/71 und 1914/18 standen Sie ganz selbstverständlich ihren Mann.

Die letzten, krisengeschüttelten Jahre der Weimarer Republik und vor allem die Zeit nach 1933 zeigten indes, wie schnell scheinbar festgefügte gesellschaftliche Verhältnisse hinweggefegt werden können, und die jüdischen Mitbürger sollten dies als erstes spüren. Im Jahr der Machtübernahme Hitlers lebten noch 28 Juden am Ort und diese sollten nun nicht nur unter immer stärkeren Anfeindungen und gesetzlichen Einschränkungen, sondern unter einer zunehmenden gesellschaftlichen Isolierung leiden, gehörten sie doch per definitionem nicht zur rassentheoretisch begründeten „Volksgemeinschaft“.

Während der NS-Zeit nahm die Zahl der jüdischen Einwohner noch einmal deutlich ab, vor allem durch Wegzug nach Mannheim, wo es sich anonymer lebte und eine große jüdische Gemeinde existierte, die, wenn nötig, Solidarität bot. Andere wieder hatten die Zeichen der Zeit schon früh erkannt und ihre Auswanderung vorbereitet. In Ilvesheim blieben die Alten, deren Lebensperspektive über einen gewissen Zeithorizont nicht mehr hinausging, die weniger bemittelt und allein waren oder die einfach an ihrer Heimat hingen.

Für die am Ort verbliebenen Juden wurde die Lage bald immer desolater. Dies betraf nicht nur den ökonomischen Abstieg (der lediglich dadurch etwas abgemildert wurde, weil die Ilvesheimer Juden allesamt im Wohneigentum lebten), sondern auch eine zunehmende Vereinsamung. Die Älteren waren ausnahmslos von der Unterstützung ihrer auswärts arbeitenden und wohnenden Kinder abhängig, manche hatten bereits Grundstücke verkaufen müssen, um an Geld zu kommen. Eine feste Arbeit hatte von den Ilvesheimer Juden im erwerbsfähigen Alter zuletzt keiner mehr.

Zu was das Regime in der Lage und willens war, erfuhren die Juden spätestens am Morgen des 10. November 1938. Bei dem Pogrom wurden, während man sämtliche jüdischen Einwohner auf dem Rathaus festgesetzt und einige Männer in das KZ Dachau verschleppt hatte, Wohnungen geplündert, die Synagoge zerstört und der Friedhof geschändet. Gewiss waren diese Erfahrungen ein tiefer Schock und bedeuteten in der an Tiefpunkten nicht gerade armen Geschichte der deutschen Juden einen Rückfall in finsterste Tage früherer Jahrhunderte, aber selbst nach dem Terror der „Kristallnacht“ konnte sich damals gewiss niemand aus den Familien Loeb, Kahn und Kuhn ausmalen, was noch kommen würde, nämlich der bürokratisch gelenkte und industriell ausgeführte millionenfache Massenmord an den europäischen Juden, in dessen Bilanz am Ende nicht nur sie, sondern noch 20 weitere Ilvesheimer Juden eingehen sollten.

Bereits im unmittelbaren Nachgang des Novembers 1938 wurden vom Regime neue Diskriminierungsmaßnahmen ersonnen, woraufhin sich die Lage der Juden noch einmal massiv verschärfte. Als Schlagworte seien die sogenannten „Sühnezahlungen“ erwähnt, bei der in perverser Verdrehung der Tatsachen die Juden selbst und nicht die Verursacher für die an ihnen angerichteten Schäden aufzukommen hatten, die Einführung der stigmatisierenden Zwangsvornamen „Israel“ und „Sara“ und spezieller Kennkarten oder die endgültige wirtschaftliche Vernichtung mittels „Arisierung“. Mit Beginn des Krieges wurden die noch verbliebenen Juden in das Haus von Julius Kahn in der damaligen Schillerstraße gezwungen, das fortan als das Ilvesheimer „Judenhaus“ fungierte (dabei nichts anderes als ein Mikrogetto war), und von wo dann – am Morgen des 22. Oktobers 1940 – die ahnungslosen Hausbewohner nach Gurs deportiert werden sollten.

Die mit dem ausgehenden 17. Jahrhundert beginnende Geschichte der Jüdischen Gemeinde Ilvesheim kannte einige Besonderheiten – für die Schicksale der Ilvesheimer Juden während der NS-Zeit können wir das freilich nicht sagen: Diese Schicksale glichen jenen der Juden im Reich und waren hunderttausendfach geteilte. Die schiere Zahl der Verfolgten und Ermordeten lässt zwar die Ungeheuerlichkeit der NS-Verbrechen zu Tage treten, allerdings wirkt diese Zahl zugleich abstrakt und birgt die Gefahr eines toten Winkels durch Entindividualisierung.

Hier genau setzt die Idee der Stolpersteine an, nämlich den einzelnen Menschen beim Namen zu nennen und ihn in einem buchstäblichen Sinne zu verorten, dort wo er zuletzt aus freiem Willen gelebt hat. Das „Darüber-Stolpern“ wird auf diese Weise zu einer Chance, die Geschichte der aus Ilvesheim stammenden Juden kennenzulernen, sie nicht nur als eine historische Episode zu begreifen, sondern diese zu kontextualisieren. Denn gerade der unmittelbare Zugang, die Reflexion der örtlichen Geschichte, die bekannten Schauplätze, die Straßen, die noch die gleichen sind und die wir heute begehen, oder die mündlichen Überlieferungen in den Familien führen uns weg vom Abstrakten hin zum Konkreten, wecken das Interesse an den Verfolgten und ihrem Los – und im günstigsten Fall, so jedenfalls die Hoffnung – werden wir durch das „Stolpern“ vorsichtiger, was angesichts gewisser Entwicklungen in unserer Gesellschaft ohnehin angebracht ist: Denn Antisemitismus ist nicht nur nicht verschwunden, sondern kommt in vielen Gewändern daher, hat heute, so muss man feststellen, vielfältigere Formen denn je, findet er sich doch nicht allein im Mind-Set der Paläo- und Neonazis, sondern auch in Teilen der Linken und sowieso in der muslimischen Welt.

Stolpersteine sind Kleindenkmäler mit großer Symbolik. Sie können als ein wichtiges Element im Erinnerungsprozess dienen, der ja immer auch – so wünscht es sich der Historiker – ein Lernprozess sein soll. Enden darf es – und mit dieser Mahnung will ich schließen – mit den heute verlegten und den künftig noch zu verlegenden Stolpersteinen deshalb nicht. Denn sonst bliebe letztlich nur ein Erinnern um des Erinnerns Willen und keine echte Auseinandersetzung mit dem Vergangenen, die uns die Brücke schlägt zu Fragen der Gegenwart und Zukunft.

Text Markus Enzenauer

2. Stolpersteinverlegung 22.10.2021

Anlässlich des 81. Jahrestages der Deportation der Juden nach Gurs wurden am 22.10.2021 erneut Stolpersteine in Ilvesheim verlegt. An drei Stellen im Ortsgebiet (Schlossstr. 16 – Apotheke, Pfarrstr. 10 und Schlossstr. 23 – Schloss) haben Mitarbeiter des Bauhofes insgesamt 9 messingfarbene Gedenksteine in den Boden eingelassen.

Das Ziel des Projektes ist es, die Namen der Opfer zurück an die Orte ihres Lebens zu bringen. Deshalb lasen nach der Begrüßung durch Bürgermeister Andreas Metz verschiedene Jugendliche jeweils die biografischen Daten der ehemaligen jüdischen Mitmenschen vor. Moritz Kaufmann, Rosa Kaufmann, geb. Nußbaum, Esther Else Kaufmann, Irma Henriette Kaufmann, Regine Kaufmann, verehelichte Hochstädter und ihr Sohn Ernst Hochstädter, Auguste, Herbert und Jakob Hammel waren Menschen, die mitten in Ilvesheim lebten und arbeiteten. Die Großnichte von Regine Hochstädter, Frau Marilyn Corrie, war extra für die Veranstaltung aus London angereist. Sie sprach ein paar Worte zu ihrer Familie. Nach ihrer Großtante wurde auch das Regine-Kaufmann-Haus, ein Pflegeheim in Ilvesheim benannt.

Der Historiker und Mitarbeiter des MARCHIVUMs Mannheim Markus Enzenauer hatte die Daten aller Personen im Vorfeld sorgfältig recherchiert. In einem kurzem Vortrag stellte er die Geschichte der jüdischen Gemeinde in Ilvesheim dar.
Die Verlegung der STOLPERSTEINE ist ein wichtiges Signal gegen das Vergessen, gerader in einer Zeit, in der der Rechtsextremismus wieder erstarkt.
 

Texte von Markus Enzenauer

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